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aus dem Nordkurier vom 14.03.2022:

Ausgesonderter Obus Nr. 04(III) vom DDR-Typ LOWA W 602a mit Beiwagen IX vom Typ W 700

Auch in den 1950er und den 1960er Jahren waren in Eberswalde LOWA-Obusse mit Anhängern unterwegs

Die stille Sensation hängt an der Strippe



Von Hartmut Nieswandt

Eberswalde ist eine Obus-Stadt. Es gibt zwei Linien mit den abgaslosen, leisen Fahrzeuge. Das ist jedoch nicht die einzige Attraktion, die der Ort zu bieten hat.

Eberswalde. Obwohl es 1901 den Begriff "Umweltschutz" noch gar nicht gab, hat man ihn schon zu dieser Zeit in Eberswalde praktiziert: Die brandenburgische Stadt nahm am 12. März 1901 den ersten deutschen O-Bus, der damals "Gleislose Bahn" genannt wurde, in Betrieb. Zwar musste dieses Vorhaben schon einige Monate später wieder eingestellt werden - die Technik war eben noch nicht ausgereift. Aber der Samen war gelegt! Denn 1940 wurde das moderne O-Bus-System in der Industriestadt Eberswalde eröffnet. Und was mindestens genau so verdienstvoll ist: Oberleitungsbusse sind auch heute noch das Rückgrat des Stadtverkehrs.

Das ist in eine Rarität, die allein schon einer Ausflug nach Eberswalde wert ist. In ganz Deutschland gibt es nur noch zwei weitere Obus-Städte: Esslingen am Neckar (Obusse seit 1944) und Solingen(1952). Alle anderen der vielen Trolley-Bus-Betreiber-Städte haben längst auf Diesel umgestellt, zum Beispiel Berlin (1973), Dresden, Leipzig, Erfurt (1975) oder Weimar (1993) und Potsdam (1995).

Es ist aber unbedingt davon auszugehen, dass in den kommenden Jahren in vielen Orten die nachhaltigen, abgaslosen und leisen Busse wieder ans Netz gehen. Das erfordert allein schon der Klimaschutz, in Berlin beispielsweise läuft schon ein Projekt.

Wer das bis dahin schon einmal ausprobieren möchte, wie besonders umweltfreundliches Busfahren funktioniert, der fährt nach Eberswalde. Denn der Oberleitungsbus gehört zu Eberswalde wie der Spritzkuchen, den Koditor Gustav Louis Zietemann 1842 erfand.

37 Kilometer mit dem Strippenexpress

Die beiden Obus-Linien in Eberswalde, auch Strippenbus und Strippenexpress genannt, haben eine Gesamtlänge von 37,2 km. Die 15 Obusse legen pro Jahr rund 870000 km zurück und befördern gut 4,2 Millionen Fahrgäste. Bis 1985 verkehrten die O-Busse in der Stadt mit Anhängern. Ab 2010 wurde der Eberswalder Fuhrpark komplett erneuert. Zwölf "Solaris Trollino 18", gebaut in Polen, kamen zum Einsatz. Der damalige Eberswalder Bürgermeister Friedhelm Boginski konnte sich gut vorstellen, dass diese Technologie für die Mobilität der Zukunft eine wichtige Rolle spielt. Die Fahrzeuge verbrauchten keine fossilen Brennstoffe, ihr Antrieb sei deutlich leiser als der von Dieselmotoren.

Natürlich hat Eberswalde mehr zu bieten als ein umweltfreundliches und nachhaltiges Nahverkehrssystem. Eberswalde ist die Kreisstadt des Landkreises Barnim und liegt inmitten des Eberswalder Urstromtals. Der Ort hat heute knapp 40000 Einwohner (1989 55000). Er wurde im Jahr 1254 gegründet. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Altstadt stark zerstört, einige historische Gebäude und Straßen sind aber erhalten. Mitten durch das Zentrum führt der Finowkanal, der heute bedeutendere Oder-Havel-Kanal verläuft nördlich der Stadt.

Im Stadtzentrum ist der Marktplatz mit seinen beiden Rathäusern sehenswert. Das Alte Rathaus ist ein barockes Bürgerhaus aus dem Jahr 1775, das Neue Rathaus wurde Anfang des vorherigen Jahrhunderts errichtet.

Das älteste Fachwerkhaus von Eberswalde ist die ehemalige Adler-Apotheke in der Steinstraße. Dort befinden sich heute die Touristeninformation und das Museum für Regionalgeschichte. Im Museum ist eine Nachbildung des angeblich größten Goldfunds Deutschlands zu sehen: Der "Eberswalder Goldschatz" aus dem 9. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung wurde 1913 bei Ausschachtungsarbeiten gefunden, er wiegt rund 2,5 kg!

Sehenswert ist ebenfalls die Maria-Magdalenen-Kirche in der Kirchstraße, sie stammmt aus dem 13. Jahrhundert und hat einen geschnitzten Spätrenaissancealtar. Familiengarten und Zoo sind nicht nur für Familien interessant. Der Familiengarten ist ein weitläufiges Parkgelände am Südufer des Finowkanals. Dort gibt es verschieden gestaltete Gärten, einen Feenwald, eine Märchenspiellandschaft und unterirdische Kanäle, die mit einem Tretboot befahren werden können.

"Montage-Eber" wurde zum Aussichtsturm

Eine besondere Attraktion ist der "Montage-Eber", ein 58 m hoher Kran. Er wurde 1958 gebaut und nach dem Wappentier der Stadt benannt. Bis 1990 diente der "Eber" im Kranbau Eberswalde als Montagekran. Als nach der Wende die Treuhand die Eberswalder Schwerindustrie weitgehend vernichtete - allein der Kranbau hatte vorher 3500 Mitarbeiter, das Walzwerk Finow 2500 - wurde der "Montage-Eber" nicht mehr gebraucht. Er wurde jedoch nicht verschrottet. Heute ist er ein Aussichtsturm und steht im Familiengarten. Von der 30 m hohen Plattform kann man bei klarem Wetter den 50 km entfernten Berliner Fernsehturm sehen. Im Zoo leben rund 140 Tierarten inmitten eines Mischwaldes. Auf dem Gelände gibt es außerdem mehrere Abenteuerspielplätze und einen Streichelzoo.

Der Finow-Kanal ist die älteste noch befahrbare künstliche Wasserstraße in Deutschland und durchzieht das Finowtal ebenso wie das Eberswalder Stadtgebiet. Den Kanal kann man per Kanu, Floß oder Motorboot entdecken. Der Rad- und Wanderweg "Treidelweg" führt entlang des Finow-Kanals.

Gelenkobus Nr. 057 vom polnischen
Typ Solaris Trollino 18 AC Der erste Obus mit Kontaktwagen